Verlorene Bilder, verlorene Leben

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen zu Beginn der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Ihrem Wohnzimmer und an der Wand über dem Sofa hängt Pissarros Rue de Saint-Honoré. Es gehört zu Ihrem Familienbesitz und Sie gehen davon aus, dass Sie sich noch lange an diesem wunderbaren Kunstwerk erfreuen können. Auf einmal verändert sich die politische Landschaft in Ihrem Heimatland und Sie sind aufgrund Ihres Glaubens sehr bald dazu gezwungen das Land zu verlassen – schließlich geht es um Leben oder Tod.Im März 1939 taucht ein amtlicher Sachverständiger und Schätzer mit einer Konzession der „Reichskammer für bildende Künste“ auf und verschafft sich einen Überblick über Ihre ganzen Kunstgegenstände. Der Schätzwert für das wertvolle Pissarro-Bild wird auf gerade Mal RM 900 festgelegt.

Jetzt könnte man sagen, man ist doch selbst schuld, wenn man sich auf den Verkauf des Werkes zu diesem Preis einlässt, schließlich hat dieser Preis nicht im Entferntesten dem wirklichen Wert entsprochen. Man hätte doch länger verhandeln können (und damit die Ausreise gefährden?). Oder man hätte einen anderen Händler suchen können (der vielleicht nicht dazu bereit gewesen wäre mehr Geld für das Bild zu bezahlen). Im schlimmsten Fall hätte man Sie an die Gestapo verpfeifen und somit dafür sorgen können, dass „die Sache“ aus der Welt geschafft wird.

Wie auch immer, Sie lassen sich auf den Deal ein und man suggeriert Ihnen, Ihnen damit einen Gefallen getan zu haben. Die RM 900 bekommen Sie auf ein Sperrkonto überwiesen, worauf Sie keinen Zugriff haben, so dass das Konto dem deutschen Staat zufällt.

Nach dem Ende des Grauen, wir sind inzwischen im Jahr 1993, taucht das Bild in der privaten Sammlung des Heini Thyssen-Bornemisza auf, welcher wiederrum Teile seiner außergewöhnlichen Kunstsammlung an dem spanischen Staat für 350 Mio Dollar verkauft hat. Seitdem hängt Ihr Wohnzimmerbild in seinem Museum in Madrid und Sie gehen leer aus!

 

Stellen Sie sich vor, Sie sind Kunstschriftsteller und sammeln moderne Künstler wie z. B. Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee, Otto Dix und Otto Mueller; gefühlt alle Expressionisten, die man sich vorstellen kann. Diese Aufzählung ist nicht abschließend, denn Ihre private Kunstsammlung umfasst nicht nur Gemälde, sondern auch Plastiken, Grafiken und Zeichnungen.

Weil Sie aus dem Land fliehen müssen, überlassen Sie Ihre Sammlung einer guten Freundin, die Sie später hintergehen wird, so dass Ihre Sammlung nie wiedersehen. Die Flucht ist eine Odyssee über Frankreich, USA nach Mexiko. Nach dem Krieg versuchen Sie jahrelang Informationen darüber zu erhalten, was mit Ihren Kunstwerken geschehen ist. Leider ohne Erfolg.

Nach Ihrem Tod fängt die einst gute Freundin an, schrittweise Ihre Werke auf dem Markt zu bringen, die sie vorher als ihre eigene Sammlung deklariert. Da Sie nicht mehr unter den Lebenden weilen, steht die Aussage Ihrer Nachfahren gegen die Aussage der Diebin und keiner kann mehr beweisen, wem die Werke einst gehört haben.

 

Stellen Sie sich nun vor, Sie erwerben aus der Erbschaft Ihres reichen Onkels Ihr erstes Kunstwerk für eine recht stattliche Summe und es ist ein Kandinsky. Nämlich sein frühes Meisterwerk Improvisation 10, eine der frühen Abstraktionen, „in der man noch die Herkunft von weiten hellen Landschaften mit rollenden Hügeln fühlen kann“. Dieses wunderbare Bild hängt in Ihrer bürgerlich möblierten Acht-Zimmer-Wohnung in Hannover und Sie können sich jahrelang daran erfreuen.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, müssen Sie Ihren Haushalt auflösen und übergeben dem Direktor des örtlichen Provinzialmuseums Anfang August 1926 insgesamt 16 Werke zur Aufbewahrung; darunter auch die Improvisation 10. Das Museum quittiert den Erhalt.

Nach Ihrer Vertreibung und Umsiedlung – Sie lebten zwischendrin in einem Keller, dann bezogen Sie ein Zimmer in einer Baracke ohne Warmwasser und Toilette, versuchen Sie Ihre Bilder vom Museum wiederzubekommen. Man teilt Ihnen mit großem Bedauern mit, „dass die von Ihnen genannten Bilder, wie überhaupt alles, was sich an moderner Kunst im Hannoverschen Museum befand, 1937 verloren gegangen sind (…)“.

Einige Bilder tauchen Jahre später wieder auf, wobei manche der neuen Besitzer sich taub stellen und auf Ihre Anfragen nicht reagieren. Die Reaktion der Foundation Beyeler toppt dabei alles: Zunächst versucht man Sie mit einer Dauerkarte für die Foundation abzufertigen, damit Sie sich das Bild jederzeit anschauen können. Schließlich sehen die Verantwortlichen ein, dass die Argumente der „Gutgläubigkeit“ und „Verjährung“ nicht wirklich greifen, und man einigt sich auf eine angemessene Entschädigung. Nicht alle Bilder kehren zu Ihnen zurück.

 

Stellen Sie sich zu Guter Letzt vor, Sie gehören der Familie Hess an und Ihnen gehören etwa 80 Ölgemälde, 200 Zeichnungen und Aquarelle und ungefähr 4000 grafische Blätter. Einst lebten Sie in Erfurt und bewirteten die ganzen Expressionisten bei sich zu Hause. Sie besaßen so viele Kunstwerke, dass Ihre Zimmer alle zwei Namen hatten. Einen gewöhnlichen, wie Herren- oder Speisezimmer, und einen Malernamen, wie ‎das „Marc-Zimmer, mit gelben Wänden und blauer Decke, das Nauen-Zimmer, mit großen, für den Raum entworfenen Bildern, und das Kirchner-Zimmer. In Ihrer Halle hingen Werke von Nolde, Schmitt-Rottluff, Pechstein, Otto Mueller, im Herrenzimmer Feininger…“.

Zu Ihrer Sammlung gehörte u.a. „Die Barfüsserkirche 1“ von Lyonel Feininger‎ von 1924, die 1935 zwangsversteigert wurde und heute in der Staatsgalerie Stuttgart hängt. Bekannter ist Kirchners Berliner Straßenszene von 1913, welches fast zwanzig Jahre in Ihrem Familienbesitz war, 1936/1937 zwangsverkauft und 2006 zurückerstattet wurde. Noch berühmter wurde es, als es am 08. November 2006 für den höchsten bislang für ein Kirchner-Gemälde ‎gezahlten Kaufpreis von umgerechnet 30 Millionen Dollar versteigert wurde. Übrigens wurde dieses Bild einst als Leihgabe im Frankfurter Städel gezeigt. Und ja, Sie können es sich schon denken: Auch hier kehrten die meisten Bilder nicht zu Ihrem Besitzer zurück.

 

Verlorene Bilder, verlorene Leben – Jüdische Sammler und was aus ihren Kunstwerken wurde: In diesem Buch wird vom größten Kunstraub aller Zeiten berichtet. Etwa 600.000 Kunstwerke aus jüdischem Besitz wurden gestohlen, beschlagnahmt, eingezogen, zwangsverkauft oder -versteigert. Seit 1945 bemühen sich die Geschädigten und ihre Erben meist mit mäßigem Erfolg um die Rückgabe der wertvollen Kunstwerke.

Unter anderem wird darüber berichtet, was mit den Sammlungen der Familien Cassirer (unter anderem Pissarros Rue Saint-Hanoré am Nachmittag)‎, von Mendelssohn, Bloch-Bauer, den Rothschild und viele anderen geschah. Während die Medien häufig nur über die spektakulären mit diesen Werken zu erzielenden Kaufpreisen berichten, erzählt dieses Buch von den Menschen hinter den einstigen Sammlungen, deren Schicksale und gibt tiefe Einblicke in die Problematik der Kunstrestitutionen.

Am Ende bleibt einem nur noch die Sprachlosigkeit.

 

Verlorene Bilder Verlorene Leben
Jüdische Sammler und was aus ihren Kunstwerken wurde
Melissa Müller und Monika Tatzkow
unter Mitarbeiter von Thomas Blubacher und Gunnar Schnabel
Elisabeth Sandmann Verlang GmbH, München
1. Auflage 2009
ISBN 978-3-938045-30-5